Aus der großen Welt ins kleine Forst

New York, Tokyo, Paris und nun Forst – zwei international tätige Künstler entdecken Forst für ihre Kunstprojekte

Eine Frau, an der scheinbar nach Belieben Autoersatzteile haften und wieder abgestoßen werden; ein Mann, der in drei Meter Höhe entspannt an einer Hauswand angelehnt schwebt und telefoniert – was wie aus einer Fantasy-Geschichte klingt, wurde Ende April in Forst (Lausitz) Realität: Maren Strack und Johan Lorbeer, zwei international tätige Künstler, nutzten eine der in Forst zahlreich vorhandenen Industriebrachen, um hier Videoclips ihrer Performances zu erstellen. Gleichzeitig waren die Filmarbeiten Auftakt der „Forster IndustrieFotoTage“, ein von Lausitzer Kulturschaffenden initiiertes Kulturprojekt, das den Begriff „Industriekultur“ wörtlich nimmt und in diesem Jahr ehemalige Forster Industrieobjekte mit Kunst und Kultur kombiniert.

Das Ambiente der ehemaligen Tuchfabrik Gottlieb Noack bildete die Kulisse für Maren Stracks Performance „Ersatzteillager“. Den Kontakt zum Eigentümer des Industriestandortes vermittelte der Fachbereich Stadtentwicklung der Stadt Forst (Lausitz).

Ausrangierte Auto- und Motorradteile sind das zentrale Element für Maren Stracks Recycling-Schrott-Musik-Performance. In Kostüm und Requisiten sind Elektromagnete integriert, die Materialien während der Tanzbewegungen anziehen, wieder abstoßen und so in Bewegung versetzen. „Die ursprüngliche Idee war, eine Magnetperformance zu realisieren, in der Metallobjekte an meinem Körper magnetisch kleben bleiben und kontrolliert wieder abfallen können. Mich interessierte, wie ich mit dem Phänomen des Magnetismus und meinen Tanzbewegungen eine choreographische Interaktion entwickeln kann“, sagt die Künstlerin, die bereits Auftritte in Japan, Spanien und den USA hatte. Die Figur aus Autoteilen am Anfang ihrer Performance ist den surrealen Bildern von Giuseppe Arcimboldo nachempfunden. Arcimbolo ist Kunstkennern als jener Maler bekannt, der im 16. Jahrhundert Porträts gemalt hat, die aus Obst, Gemüse und anderen Lebensmitteln collagiert sind. „Wenn Arcimboldo ein Zeitgenosse gewesen wäre, hätte er vermutlich auch ein Porträt aus Autoteilen gemalt“, meint die Künstlerin. Ein halbes Jahr hat sie gebraucht um ihr neuestes Objekt zu bauen und die Magnetchoreographie zu entwickeln.

Der Kontakt nach Forst kam über Sven Till, dem künstlerischen Leiter der „Fabrik Potsdam“ zustande, der die Forster Industriebrachen bereits kennt und diese ebenfalls im Laufe des Jahres für das Projekt „Dance in Residence“ nutzen wird. „Sven hat mir die Fotos der Forster Tuchfabrik gezeigt und ich war sofort inspiriert von der imposanten Halle. Das war genau der richtige Platz um mein Videovorhaben zu realisieren.“ erinnert sich Maren Strack. Und tatsächlich bot der Originaldrehort für die Künstlerin das ideale Ambiente. „Ich habe die Momente in meiner Choreographie genossen in der meine Augen nach oben gerichtet sind, und dabei das Bild dieser gewaltigen Gewölbedecke aufgesogen, die im Laufe der Jahrzehnte ein unglaubliches Colorit bekommen hat!“

Auch Kameramann Karim Oeltze von Lobenthal ist begeistert von der Kulisse. Obwohl sich Kameramann und Künstlerin schon länger kennen, ist es die erste gemeinsame Zusammenarbeit. Karim Oeltze von Lobenthal drehte bereits für „Zeit online“ und das ZDF. Für die hochgelobte Reportage-Serie „Baseballschlägerjahre“ führte er bei drei Folgen die Kamera.

Während Maren Stracks Performance durch Dynamik und Bewegung charakterisiert ist, bevorzugt Johan Lorbeer eher den Stillstand. „Es passiert ja nicht viel, ich stehe nur an der Wand. Ich dachte mir, ich bin ja eine Art Stillleben und habe deshalb für mich den Begriff „Still-Life-Performance“ gefunden. Das bezieht sich einmal auf den kunsthistorischen Begriff Still-Life (Stillleben) und gleichzeitig ist die performative Situation auch live. Und diese kontroverse Verbindung von Stillleben und Live ist auch der Titel meiner Aktion“, sagt Johan Lorbeer, der bis 2016 Professor an der Berliner Universität der Künste tätig war und mit seinen künstlerischen Arbeiten in den USA, China, im arabischen, europäischen und südamerikanischen Raum die Leute faszinierte und manchmal auch irritierte. „Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich, je nachdem, wo ich die Performances realisiere. In einigen Kulturkreisen ist die Reaktion auf meine Performances teilweise schon aggressiv, in anderen Ländern hingegen sehr entspannt und mit viel Kommunikation. Worum es mir bei der Performance u.a. geht ist die Fragestellung: wie betrachtet man im Alltag den Raum und wie sind unsere Alltagssehgewohnheiten? Ich denke als Künstler sollte man u.a. unsere Sehgewohnheiten in Frage stellen, damit wir zumindest kurzfristig einen anderen Blick auf unsere umgebende Realität bekommen.
Normalerweise stehen wir ja auf dem Fußboden, auf dem Boden der Tatsachen. Und wenn man so eine Situation wie meine Performance sieht – und man sieht einen Mann der in der Luft schwebt ja nicht alle Tage – dann hinterfragt man seinen Standpunkt. Wo stehe ich, wo steht der? Was ist die Realität? Die Frage lässt sich natürlich nicht beantworten, weil es die eine Realität nicht gibt. Beides ist Realität.
Wenn der Betrachter bemerkt, dass die Situation nicht in sein normales Alltagsschema passt und daher irritiert und im besten Falle inspiriert ist, dann habe ich zumindest eine Aufgabe von Kunst schon erfüllt“ – so wie in Forst, als ein vorbeifahrender Radfahrer seinen Augen nicht glauben wollte, als er Johan Lorbeer scheinbar losgelöst in drei Meter Höhe an der Gebäudewand lehnen sah. Dabei handelt es sich bei Johan Lorbeer nicht um Magie, auch wenn der Anblick etwas Magisches hat. Gehalten von einem Metall-Korsett, das fest in der Wand verankert ist, steht er oft bis zu zwei Stunden in entspannter Pose und ist natürlich ein beliebtes Fotomotiv. Die Mauern der Forster Fabriken sind für seine Aktionen ideal: „Besonders gut sind die Wände hier, diese alten soliden Ziegel. Ich hatte schon in anderen Städten Betonwände, wo ich zwei Tage gebohrt habe, um Halt zu finden.“

Bis in die späten Abendstunden wurde in Forst Material für insgesamt 3 Videofilme gedreht. Zu sehen sein werden sie u.a. im Streaming-Format bei der „Langen Nacht der Theater“ in Potsdam. Und sollten die „Tanztage Potsdam“ nicht live stattfinden können, laufen die Videos auch dort als Alternative.

Mehr Fotos gibt es hier: https://www.stephan-lausitz.de/Maren%20Strack%20-%20Johan%20Lorbeer%20-%20Offiziell/